Feine Unterschiede

Pierre Bourdieus Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft

Zugegeben: Sein Texte sind alles andere als leichte Kost. Und als Student im zweiten Semester kosteten sie mich damals reichlich Schweiß und Tränen. Und dennoch faszinierte er mich von Anfang an: Pierre Bourdieu, Sohn eines französischen Landwirts und späteren Postangestellten und dessen Ehefrau, aufgewachsen in kleinen Verhältnissen in der französischen Provinz, studierter Philosoph und einer der einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Ein Soziologe der Alltagskultur – und in der Lage, einen einzigen Satz über eine ganze Buchseite zu spinnen.

Strukturierende Strukturen

Ich verbrachte in jenem Sommer Stunden, Tage und Wochen mich schwitzend und stöhnend durch sein Œuvre zu kämpfen, mich mit seinen Gedanken, Konzepten und seinen Leitbegriffen auseinanderzusetzen. Andere gingen ins Freibad, ich saß über seinen Texten. Habitus, sozialer Raum, soziales Feld, Kapital und Klasse. Bourdieu verfolgte mich bis in den Schlaf. Alles hochkomplex, da Bourdieu nicht nur Wissenschaftssysteme, sondern eine Vielzahl konnotierter Begrifflichkeiten miteinander in Bezug setzt.

Pierre Bourdieu "Die feinen Unterschiede"
Pierre Bourdieus Hauptwerk „Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ erschien 1979 in französischer Sprache und 1982 bei Suhrkamp in der deutschen Übersetzung.

Ich kritzelte seine Definitionen auf Karteikarten, malte Skizzen seines sozialen Raums, zeichnete Schaubilder mit den verschiedenen Klassenfraktionen. Mehr als einmal schien mich Bourdieus Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ (Suhrkamp-Verlag) in den Wahnsinn zu treiben. Die langen Sätze, die komplexen Strukturen, schließlich: die strukturierenden Strukturen. Ein Alptraum. Doch ich biss mich fest. Gleich einem Fisch, der den Köder verschlungen hat – und ihn partout nicht mehr loslassen will. Und mit der Zeit fand ich Gefallen an Bourdieus Gedankenwelt.

Das lag sicher an unserem Dozenten Franz Schultheis. Dieser war damals, Mitte der 1980er Jahre, Oberassistent in der Fachgruppe Soziologie der Universität Konstanz. Auch er eine faszinierende Persönlichkeit, ein Intellektueller mit enormer Bildung, der Sätze in derselben Länge wie Bourdieu formulieren konnte. Und der eine kleine Gipsbüste von Marx auf seinem Schreibtisch stehen hatte. „Inspiration“, meinte er, als er meinen verblüfften Blick beim Anblick der Büste des Philosophen sah – und grinste.

Zeigt her eure Socken

Bourdieu ließ mich nicht mehr los. Nachdem ich sein Konstrukt verstanden hatte, begann ich in seinen Kategorien zu denken. Und, was noch wichtiger ist: diese anzuwenden bei meinen Alltagsbeobachtungen. Bourdieu öffnete mir die Augen für die feinen Unterschiede zwischen den sozialen Klassen, die sich nicht nur am ökonomischen Kapital manifestieren, sondern viel stärker an deren sozialem und kulturellen Kapital, an deren Habitus. Also am gesamte Auftreten, den Umgangsformen und Gewohnheiten einer Person, wie bereits Aristoteles das Konzept des Habitus formuliert hatte. Ich begann Parvenues, soziale Emporkömmlinge, an den weißen Schuhen und den Tennissocken zu identifizieren, die sie zu ihren dunklen Nadelstreifanzügen trugen. Bourdieu half mir dabei, Vertreter der Fraktion des aufsteigenden Kleinbürgertums an ihrem Drang zur Imitation der Bourgeoisie zu erkennen und die Ängste des traditionellen Kleinbürgertums vor sozialem Abstieg nachzuvollziehen. Seine Soziologie des Alltags schärfte meine Beobachtungsgabe und meine Analysekraft. Vor allem aber meine Fähigkeit, in Strukturen zu denken. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Wütender Aufschrei des traditionellen Frankreichs

Bourdieu hat für mich in all den Jahren nie an Aktualität eingebüßt: Marine Le Pens Wahlerfolg bei den französischen Präsidentschaftswahlen, ihr Einzug in die Stichwahl und die Tatsache, dass rund ein Drittel der Franzosen für die Rechtsextremistin votierten – das lässt sich wunderbar mit Bourdieu erklären. Oder besser noch: verstehen. Denn es war das von Bourdieu en détail beschriebene traditionelle Kleinbürgertum, das sich, getrieben von der Angst vor sozialem Abstieg, von Marine Le Pen verführen ließ. La France d’abord. Frankreich zuerst, das Frankreich der kleinen Krämerläden und der Handwerker. Das Frankreich einer, wie es scheint, längst vergangenen Zeit. Le Pen war das Ventil für die aufgestaute Wut des traditionellen Kleinbürgertums. Und für dessen ganzen Schmerz über den Verlust dieser vermeintlich heilen Welt des traditionellen Frankreichs. Auch wenn Pierre Bourdieu bereits 2002 verstorben ist, so hat er doch ein einzigartiges und faszinierendes Werk hinterlassen.

Frank Vollmer

Foto: Thierry Ehrmann